Ab und zu rezensiere ich Bücher, welche für Stockfotografen interessant sein könnten. Heute widme ich mich einem Buch, welches auf den ersten Blick kaum etwas mit dem Foto-Business oder der Stockfotografie zu tun hat.

Nach dem Lesen bin ich jedoch so begeistert, dass ich eines schon verraten kann: Dieses Buch sollte zur Pflichtlektüre für professionelle Fotografen werden!
Der Kölner Psychologieprofessor Martin Schuster beschäftigt sich in seinem Buch „Fotos sehen, verstehen, gestalten“ mit der Psychologie, die hinter Fotos steht. Warum fotografieren wir? Wie verändert die Fotografie unsere Wahrnehmung? Wie wirken Fotos auf Instinkte? Wie verändert die Portraitfotografie unsere Selbstwahrnehmung?
Antworten zu diesen und viel mehr Fragen liefert das Buch. Prof. Dr. Schuster gibt gleich am Anfang zu bedenken, dass die Fotopsychologie noch in den Kinderschuhen stecke. Trotzdem finden sich viele Aha-Erlebnisse, Thesen zum Nachdenken und für Stockfotografen sogar auch einige praktische Tipps.
Obwohl das Werk wissenschaftlich fundiert ist, liest sich das Buch einfach und flüssig und oft erwische ich mich dabei, wie ich durch Schusters Erklärungen mir bekannte Phänomene besser verstehe.
Hier mal einige Stichpunkte, die ich mir beim Lesen gemacht habe:
- Die Wahrnehmung des menschlichen Auges entspricht ungefähr einem Foto mit der Belichtungszeit von 1/125 sek (S. 33). Zusammen mit dem Wissen, dass das 50mm-Objektiv am ehesten dem Blickwinkel unserer Augen entspricht, können wir mit dieser Kombination versuchen, sehr natürlich anmutene Fotos zu machen.
- Der gekrümmte Augapfel könnte der grund dafür sein, dass wir bei hohen Gebäuden keine stürzenden Linien wahrnehmen (S. 31).
- „Erst als in der Fotografie mit ihrer Momentaufnahme Unschärfe zu einem ‚Merkmal‘ bewegter Objekte wurde, konnte die Unschärfe als Bewegungsvisualisierung, als Metapher für Bewegung, verwendet werden“ (S 33).
- Je größer ein Foto zu sehen ist, desto wichtiger ist die Komposition. Der Grund dafür ist, dass bei einem kleinen Foto alle Bildbestandteile sofort vom Auge erfasst werden können. Erst bei größeren Formaten ist es möglich und notwendig, durch eine gelungene Komposition den Blick des Betrachters zu lenken (S. 24).
- Die Einstellung der Menschen zum Fotografiert-Werden ändert sich mit der jeweiligen Rechtslage (S. 12).
- Mit schönen Fotos finden Menschen Anerkennung: „Wer dem anderen die Welt ’schön‘ machen kann, indem er an neuer Stelle Schönheit entdeckt, kann selber eine schöne Seele reklamieren, kann für diese Dienstleistung Anerkennung und Bewunderung einfordern“ (S. 42).
- „Allerdings, so hat sich gezeigt, unterscheidet sich echtes, erfreutes Lächeln durch eine Einbeziehung der Augenregion von künstlichem, aufgesetztem Lächeln“ (S. 119)
- Streicheln, Füttern, Verstecken und Händehalten sind ritualisierte Signale einer friedvollen Stimmung, die Schutz und Sicherheit suggeriert (S. 119).
- Glück auf Fotos entsteht durch den Kontrast mit Unglück: „Ein ausgewogener Rückblick allerdings – auf Erfolge und Misserfolge – stellt die schönen Erlebnisse in den – auch in der Realität vorhandenen – Kontrast, der sie erst richtig freudig macht“ (S. 235).
Stockfotografen aufgepasst, hier ein besonders hilfreicher Praxistipp:
Wie erreiche ich einen spontanen Ausdruck im Gesicht meines Models?
- Das Model bitten, eine Geschichte oder einen Witz zu erzählen.
- Das erste Auslösen des Fotoapparats vortäuschen, um danach den entspannten Gesichtsausdruck einzufangen.
- Das Model steht mit dem Rücken zum Fotografen und dreht sich auf Zuruf um.
- Das Model wird überrascht.
Insgesamt ist das Buch eine Lektüre, welche mein bisheriges Verständnis von Fotografie stark erweitert hat und von der ich merke, dass ich dadurch meine Umgebung noch intensiver beobachte.
Fazit: Eine verständlich geschriebene Pflichtlektüre für alle Fotografie-Interessierte mit vielen Aha-Erlebnissen.
Bisherige Rezensionen:
„Mit eigenen Fotos Geld verdienen“ von Lee Frost
